I - Das Leben
"Es ist leicht, das Leben aufzuzeichnen, aber erschreckend zu leben …" E. M. Forster
Der Hinweis
Das Ästchen
Der Brief
Das Erbstück
Der Brunnen
Der Fehler
II - Die Zwischenwelt
"Das ist eines der Geheimnisse des Lebens: Die Seele mit den Mitteln der Sinne und die Sinne mit den Mitteln der Seele zu heilen." Oscar Wilde
Die Eine
Die Andere
Der Turm
Die Nummer
Das Märchen
Der Koffer
Die Wandlung
III - Der Tod
"Nimm, o nimm die süße Spende und vergiss der Trauer schwer! Sprach der Rabe: Nimmermehr!"
Edgar Allan Poe
Der Tanz
Das Herz
Das Versprechen
Das Geschenk
Der Fall
Die Verwechslung
Dies ist eine Sammlung kurzer, merkwürdiger Geschichten. Über die tragikomische und hoffnungsfrohe Seite der menschlichen Natur. Folglich Erzählungen über Leben, Tod – und die Welt dazwischen. Keine beliebigen Geschichten, sondern das, was die Fantasie des Lesers daraus macht: mal etwas Lustiges, mal was mit leisem Grauen, dann wieder etwas Märchenhaftes. Und doch auf eine rätselhafte Weise miteinander verbunden. Vom ersten „Hinweis“ bis zur letzten „Verwechslung“ – auf jeden Fall mitten ins Herz.
Gewidmet den Suchenden, den Findenden und denen, die sich ihre Wünsche zuvor nicht besser überlegt haben. Den Seelen, die ahnen, dass zwischen hier und dort mehr sein muss (als Gruppenzwang und Übergewicht). Und denen, die in der smogverdunkelten Großstadt das Licht am Ende des Tunnels erkennen können.
Der Hinweis
Ich bin Susanne Lederer, zweiunddreißig Jahre alt und habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden getötet.
Obwohl mir des Öfteren danach war.
Ich habe sogar Vater und Mutter geehrt. Und beides war ebenfalls kein leichtes Unterfangen. Ich habe alle Bildungswege bis zum Schluss durchgezogen und falle nur, wenn überhaupt, durch meine guten Manieren auf.
Ich bin das, was man gemeinhin einen angenehmen Umgang nennt.
Doch alles, was leicht aussieht, ist bekanntlich schwere Arbeit. Ich folgte dem Versprechen:
Wenn du artig bist, dann wirst du auch belohnt.
Also kam ich von klein auf jedem Hinweis nach, den man mir großzügig schenkte. Von ‚wasch dir die Hände vor dem Essen‘ bis zu ‚für Leggings bist du einfach zu dick‘.
Ich sah sogar irgendwann ein, dass ich für alle Zeit zu blass sein werde, um gesund zu wirken und zu leise, um im Kirchenchor den Solopart anzustimmen.
Ich bewegte mich, seit ich denken kann, in den mir vorgegebenen Grenzen und überschritt sie kein einziges Mal. Und obwohl ich jeden Tag aufs Neue, alles, das man mir bisher geraten hat, sehr ernst nahm, fand ich nicht mein Glück.
Es war an einem Mittwoch, morgens um halb acht.
Ich befragte das Zeitungshoroskop, weil das meine Handicaps wenigstens positiv formulierte, und zappte mich anschließend zu einer Dauer-Astro-Sendung eines Spartenkanals. Schließlich zog ich noch eine Karte aus meinem Engeltarot. Und doch war ich an diesem Tag mit keinem der mir entgegengebrachten Hinweise wirklich zufrieden.
Sie waren nicht eindeutig. (…)
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Die Eine
Könnt ich sie nur wiedersehen!
Gebirge, Wälder, Bauernland.
Das Wasser verästelt, verschlungen, beschreibt Kurven in einem Muster, das man nur von oben erkennen kann.
Berge, Felder, Auen, nichts bleibt von ihm unberührt.
Der Fluss fließt. Die Länge ist ihm gleich. Von Ost nach West und Nord nach Süd reibt er sich auf. Viele Namen hatte er schon, genau wie ich. Die Kelten, die Römer und andere gaben sie ihm. Die Bedeutung ist heute allen gleich.
Ob als Wasser oder Mauer, er ist für mich kein Hindernis. Der Fluss ist mein Halt, mein Wollknäuel, das mir den Weg aus dunklen Wäldern weist.
Sein Wasser wird steigen diesen Winter, ich kann es spüren. Regen und Schnee mischen ihn auf. Noch nicht lange und der Eisgang machte es uns allen schwer. Unsere Schreie besangen den Tod. Platon nannte es das schönste Lied des Sterbens, Sokrates erkannte die Freude darin. Weil wir dem Apollon heilig sind.
Doch der Fluss hat sich gewandelt. Genau wie ich. Der bissige Frost richtet heute nichts mehr aus. Seine Strenge unterliegt. Zuviel des Guten machte ihm den Gar aus. Aber mir und dem Fluss steckt die Erinnerung noch in den Gliedern.
Könnt ich sie doch noch einmal wiedersehen! (…)
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Die Verwechslung
Es war eine heiße Sommernacht. Mein erster Urlaub auf Mallorca. Die Insel würde nie mein Malle werden.
Es war heiß, unerträglich schwül, selbst um 23 Uhr.
Genauer 23:13 Uhr.
Da bin ich genau. Da leg ich wert drauf.
Sonst ist an mir alles Durchschnitt: durchschnittliche Straßenköter blonde Haare, durchschnittliche blaue Augen, durchschnittliche Kleidergröße 38.
Selbst in meinen Schuhen.
Aber eines unterscheidet mich von allen anderen:
Ich kann das Böse erkennen, wenn ich ihm in die Augen schaue.
Nicht einem Winkeladvokaten oder Straßenbahnrempler. Ich meine das richtig Böse, das in seiner reinsten Form. Satan eben. Oder einem seiner Jünger.
Ich hatte mich von meiner Reisegruppe abgesetzt, weil ich das übertrieben Heitere, Geile und Coole nicht mehr ertragen konnte. Auch hier alles Durchschnitt. Selbst das hundertprozentig Böse fehlte.
Ich setzte mich auf die Mauer der Ferienanlage, weit genug entfernt von aller aufgesetzter Heiterkeit.
Allein im Dunklen und in Abgeschiedenheit kann ich mich an meiner Durchschnittlichkeit ergötzen. Und als ich mich gerade selig in das Vakuum meiner eigenen Gedanken fallen ließ, fernab aller menschlichen Ausdünstungen, einschließlich unnötig verbalem Luftausstoß wie Trinktrinktrink! oder Oléoléolé!, setzte er sich neben mich.
„Na, so alleine hier?“, fragte er. (…)
… weiter lesen in "Das Herz, Kapitel III"