Vorwort
Gelegentlich wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Personen und Handlung frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig sind. Aber fragt man sich nicht oft genug, wie groß der Unterschied zwischen unsereins und den Figuren im Roman tatsächlich ist? Auch der Hinweis: „Dies ist kein historischer Roman“, oder „Jede Übereinstimmung von Namen und Orten ist rein zufällig“ sind bekannt. Aber beschleicht einen nicht ab und an das Gefühl, dass einem die Namen irgendwie bekannt und die Orte vertraut vorkommen?
Ich glaube, genau dazu sind Romane da. Für die Geschichte hinter der Geschichte, für das Leben auf der anderen Seite des Bucheinbandes. Für eine ähnliche Zeit, einen entsprechenden Ort, eine verwandte Seele. Und so, wie die Stadt Fransan in dieser Geschichte für viele Städte steht und das Große Beben von 1906 stellvertretend für all die kleinen und großen Katastrophen in unserem Leben, so wird der aufmerksame Leser in der Fiktion die Wahrheit wiederfinden.
„Das Erdbeben von San Francisco im Jahre 1906 erschütterte die Küste Nordkaliforniens am 18. April 1906 und gilt als eine der schlimmsten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten. In San Francisco kamen durch das Beben und die anschließend ausgelösten Feuer nach offiziellen Angaben rund 3.000 Menschen ums Leben und es gab viele Verletzte.“ (Wikipedia)Was könnte die vorliegende Geschichte glaubhafter machen, als die Realität im Vorspann?
Sollen nun die Personen zu Wort kommen, die auf den folgenden Seiten verewigt wurden, um Ihnen ihr Schicksal näherzubringen. Und wer weiß schon, wie viel Schein im Sein zwischen den Zeilen verborgen liegt …
Ihre S.A.M. Wolf
Kapitel I
„Man mag schlagen, was man will,
Stein oder Baum, so gibt es einen Ton von sich, es klaget.
So soll auch der Mensch klagen,
soll alles klagen, soll dem ersten besten klagen,
vielleicht hilft ihm der erste beste.“
Jeremias Gotthelf
Ich wusste, ich war verloren. Auch die Dunkelheit konnte daran nichts ändern. Ich zog die Baumwolldecke bis ans Kinn, obwohl mir mein langes Haar im Nacken klebte. Und ich riechen konnte, wie mein altes Hemd den frischen Schweiß aufsog. Der Regen schlug mit harten Fingern auf die Scheibe ein, bis der Wind sie wütend auseinander trieb, nur um sie gleich darauf zurückzuholen. In der Ferne Glockenläuten. Doch die helle Stimme der Sturmglocke verlor ihren Rhythmus, lange, bevor sich das Tosen über alles erhob. Von ihr blieb nichts, als ein blechernes Klagen. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf. Ich wollte die Zeiger des tickenden Blechs auf dem Nachttisch erkennen. Doch es gelang mir nicht. Die muffige Baumwolle schnürte mir die Kehle zu und ihre Fasern kratzten über meine sonnenverbrannte Haut. Angewidert würgte ich die Flusen hinunter. Wie eine Raupe im Kokon lag ich unter diesem Leichentuch, zwang mich wieder mal zur Ruhe.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Neils abfällige Bemerkung lag mir noch im Ohr, sein Grinsen deutlich vor Augen.
„Woher haste das Tuch von der alten Martha Gray, Gott hab´se selig?“
„Du warst in ihrer letzten Stunde wohl nah dran, wenn du es wiedererkennst!“, hatte ich ihm entgegen gespuckt. Worauf sich seine Lippen weiter auseinanderzogen und er die Zähne bleckte wie ein Esel. Ich hatte ihn wieder die Treppe hinunter geschickt, ohne eine Spur von Dankbarkeit. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, Tisch und Stühle für mich ins Haus zu schleppen.
Jetzt hätte ich gerne Danke gesagt.
Bob dagegen hatte auf dem Boden gekniet und ungerührt an dem Bettgestell geschraubt. Nur die Fältchen um seine Augen und die Grübchen am Mund hatten mehr Tiefe bekommen. Er hatte seinen grauen Schopf geschüttelt wie ein alter Seebär. Und ich befürchtete, er könnte dabei den buschigen Streifen unter seiner Nase verlieren. Doch Bob Anderson wird ihn vermutlich für immer behalten, so wie seinen guten alten Namen. Davon bin ich überzeugt. Das war vor kaum mehr als sechs Stunden. Jetzt war ich allein, eingepfercht in vier Wände, in denen ich um Schlaf betete. Ich biss fester auf meine Lippe und begrüßte den kurzen, stechenden Schmerz. Der Wind raste weiterhin vor Zorn und der Regen peitschte übers Land. Ich wusste, jeden Moment konnte es wieder passieren. Das Haus ächzte wie ein altes Tier. Jede Rippe knarzte. Die Schwüle lag wie Blei auf meiner Brust. Ein Druck, der jeden Atemzug zur reinsten Folter machte. Ich zog weiter an der Decke, bis sie wie eine Sehne zwischen Fäusten und Füßen spannte.
Neil hatte recht. Es war ein Leichentuch. Aber selbst jetzt wollte ich ihm widersprechen. Ich konnte nicht anders. Ihm recht zu geben bedeutete, meinen Stolz zu verletzen. Und es gab nicht mehr viel, das keine Wunden davon getragen hatte.
Ich presste die Luft aus meinen Lungen und verfluchte den Tag, an dem ich beschlossen hatte, mein Leben zu ändern. Melcar. Der Ort meiner Hoffnung wurde zu meinem persönlichen Armageddon. Und keinem außer mir konnte ich die Schuld dafür geben. Ich rollte mich zur Seite, kehrte dem Fenster den Rücken zu – und fühlte mich kein Stück wohler
.Atmen. Ich musste atmen. Nichts wurde besser. Dann ein Blitz. Und der Donner hieb mit aller Macht gegen die beiden Fensterscheiben. Ich krümmte mich zusammen, wusste, was als Nächstes kam. Die Holzflügel brachen auf und die Scheiben schlugen gegen die Zimmerwände. Keuchend fuhr ich auf, rutschte ans Kopfende des Bettes. Der Regen peitschte jetzt ins Zimmer und der verdammte Wind blies mir ins Gesicht. Ich hätte rennen können. Raus aus dem Zimmer, runter in die Küche. Vielleicht hätte mich zumindest das Telefon nicht im Stich gelassen. Aber stattdessen kauerte ich nackt auf dem Bett. Ich sah ins Licht und rührte mich nicht, obwohl ich es besser wusste.
Das Mondlicht blitzte hinter vorbeirasenden Wolken hervor, ließ die Schatten tanzen. Schrank, Tisch und Stuhl, alles tanzte wie Dämonen ums Feuer. Die Metallranken des Bettes wucherten auf dem grauen Teppich vor mir. Wie lange diesmal noch? Die Dachschräge bot mir Schutz, doch unter mir krächzten die Federn. Und ich schmeckte Blut. Meine Nerven hielten nicht. Ein Schlag. Mein Herz setzte aus. Dann raste es weiter, schneller als der Sturm. Blitze trafen sich an der Zimmerdecke. Feuchte Kälte an meinen Beinen. Ich hatte das Tuch verloren, mit zitternden Fingern tastete ich danach. Ich bekam die Wolle zu fassen, als der erste Schlag der Kirchenglocke sich Gehör verschaffte. Der Klöppel schlug mit aller Macht gegen seinen Kelch. In Gottes Namen lasst´s rinnen, stoßt den Zapfen aus! Gott bewahr' das Haus!
Die zweite Glocke in dieser Nacht. Und auch sie würde nichts helfen. Würde nichts ausrichten können gegen meine Dämonen. Das Mondlicht flackerte wie eine sterbende Kerze. Dann tastete sich die Dunkelheit mit tausend kleinen Fühlern über die Wände, die Decke, vorwärts über den Boden. Und blieb auf allem haften, was sie einmal berührt hatte. Der zweite Schlag tönte durch das offene Fenster. Dumpf und dunkel, wie alles in dieser verfluchten Stunde. Drei und vier schienen mir noch näher. Würde es denn niemals enden? Beim fünften Schlag krampfte sich mein Herz zusammen. All die Jahre hatte es mich nicht umgebracht. Und doch war jedes verfluchte Mal ein kleiner Tod. Tränen brachen sich Bahn.
Ja, ich habe gelogen. Viel in letzter Zeit. Aber es ging immer nur um Freiheit. Auch wenn das jetzt nicht mehr zählte, deshalb war ich doch kein schlechter Mensch, oder? Wenn der letzte Schlag verklungen war, würde ich es wissen. Dann kam der zwölfte. In diesem Moment verstummte die Welt. Und nur das lang gezogene Heulen des Wolfes hallte über das flache Land, brach durch die Dunkelheit, schirmte den Regen ab, zügelte den Wind und stahl dem Donner die Macht. Ich hatte verloren …
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